Geschichte von OPO
Der Delphin OPO
Da ist etwas im Wesen des Delphins, das uns stärker und anders berührt als der Charme aller Tiere. Fast alle Menschen, die Gelegenheit hatten, Delphine zu beobachten oder mit ihnen sogar in nähere Berührung zu kommen, sind sich über ihren ungewöhnlichen Einfluß auf die Gefühle und die Vorstellungswelt des Menschen einig.
Im Jahre 1955 bemerkten die Einwohner der kleinen Stadt Oponi auf der Nordinsel Neuseelands, dass ein junger Delphin fast täglich in den Hafen kam und Booten und Schwimmern folgte. Im Besonderen schien er ein dreizehnjähriges Mädchen ins Herz geschlossen zu haben, von dem er sich berühren ließ und das er gelegentlich auf seinem Rücken trug.
Diese Geschichte verbreitete sich in Windeseile, und die Leute kamen von nah und fern, um ihn zu sehen. Um die Neujahrszeit waren es bereits Tausende, die das schöne Städtchen füllten, die Küstentrasse mit ihren Fahrzeugen verstopften und am Strand campierten. Der Delphin, den sie OPO nannten, schien ihre Anwesenheit zu lieben, und er kam jeden Tag ganz nahe an die Küste heran. Was die Geschichte aber so bemerkenswert macht: Auf diese Massen sonnenverbrannter, drängelnder Menschen hatte der Delphin eine segensreiche Wirkung. Im Gegensatz zu anderen Jahren kam es zu keinem einzigen Fall von Trunkenheit, Streitigkeiten oder Tätlichkeiten. Manche Leute waren vom Anblick OPOs so hingerissen, dass sie voll angezogen ins Wasser liefen, um ihn zu berühren, fast als ob das Berühren dieses Besuchers von einer anderen, fernen Wirklichkeit ihnen eine Art Erlösung verlieh.
Abends, wenn OPO sich entfernt hatte und es kühl geworden war, drehten sich alle Gespräche um den Delphin. In den Zelten, die wie blassgrüne Lampen unter den Pinien standen, tauschten Menschen mit gedämpften Stimmen Erfahrungen aus, und die Kinder träumten mit hochroten Wangen von ihrem Freund. Völlig fremde Menschen besuchten einander in den Zelten, und das gemeinsame Erlebnis überbrückte alle Gegensätze und brachte die Menschen einander näher. Im Speisesaal des Hotels unterhielt sich jeder mit jedem.
So überraschend und ungewöhnlich war dieses Verhalten, dass man den Eindruck gewinnen konnte, als fühlten sich all diese Menschen schuldig, ohne sich dies eingestehen zu wollen, – vielleicht wegen der Gleichgültigkeit und Unfreundlichkeit, die sie so oft anderen Tieren, die ihren Weg gekreuzt hatten, entgegengebracht haben mochten.
Quelle: "Wie wirklich ist die Wirklichkeit", Paul Watzlawick